Forschungsfrage:

Inwiefern können Unterrichtsformate wie das lineare Schulfernsehen oder ähnliche aktuelle Formate wie der Bildungskanal ARD-alpha eine Lösung für künftige Schulschließungen durch Pandemien aus Sicht von Lehrkräften in Deutschland sein?

Forschungswerkstatt: „Medienbildung und Schulentwicklung. Methoden und Konzepte auf dem Prüfstand“ 2022/23 – Andreas Hedrich

Autor*in: Linda Bleistein

Zusammenfassung:

Während der Schulschließungen im Rahmen der Kontaktminimierung durch die Coronapandemie haben Schüler*innen über Monate keinen Präsenzunterricht erhalten. Mehrere Studien konnten feststellen, dass die Schulschließungen nicht nur zu erheblichen Lernrückständen bei den Schüler*innen geführt haben, sondern sich auch negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen eingestellt haben. Erneute Schulschließungen sollen zwar vermieden werden, doch ein Masterplan für den Fall, dass gefährliche Mutationen des Coronavirus oder andere neuartige Viren erneut Schulschließungen erzwingen, wurde bis dato nicht von der Bundesregierung veröffentlicht. Daher stellt sich die Frage, welche Konzepte der Distanzbeschulung ausgearbeitet und ggf. im Notfall die negativen Auswirkungen der Schulschließungen auf die Schüler*innen und auch auf die Lehrkräfte minimieren könnten. In den 70er Jahren wurde das Schulfernsehen im Kampf gegen den damaligen Lehrer*innenmangel eingesetzt, um flächendeckend eine gleiche Unterrichtsqualität zu gewährleisten. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts wurde durch die Befragung von Lehrkräften untersucht, inwiefern Unterrichtsformate wie das lineare Schulfernsehen oder ähnliche aktuelle Formate wie der Bildungskanal ARD-alpha eine Lösung für künftige Schulschließungen durch Pandemien aus Sicht von Lehrkräften in Deutschland sein können.

Methode:

  • 3 leitfadengestütze Interviews mit Lehrkräften von unterschiedlichen Schultypen/ an Schulen mit unterschiedlichen KESS-Faktoren
  • die Interviews wurden in Präsenz durchgeführt und als Audiodatei aufgenommen
  • Transkription der Interviews
  • qualitative zusammenfassende Inhaltsanalyse nach Mayring (deduktive/induktive Kategorienbildung, Entwicklung eines Kategoriensystems mit Ankerbeispielen, Codierung)

Ergebnisse:

  1. Welche Auswirkungen hatten die Schulschließungen auf SuS und Lehrkräfte?

Die Lehrkräfte konnten beobachten, dass das Ausmaß der Lernrückstände mit dem sozioökonomischen Status der Schüler*innen korrelierte. So waren die Lernrückstände größer an Schulen mit einem niedrigen KESS-Faktor als an Schulen mit hohem KESS-Faktor, da die Kinder und Jugendlichen aus wohlhabenden Elternhäusern in der Regel mehr Unterstützung beim Lernen durch die Eltern im Homeschooling erhalten haben und/oder bessere Lernbedingungen wie Hardware/ WLAN-Verbindungen vorfanden.

Unabhängig vom sozioökonomischen Status stellten die Lehrkräfte jedoch Defizite in der sozialen und motorischen Entwicklung der Schüler*innen fest. Die Kinder und Jugendlichen zeigten sich egozentrisch, konnten sich nicht an Regeln halten, waren eingeschränkt in der Interaktion und soziale Kompetenzen mussten teils völlig neu erlernt werden. Auf dem Schulhof kam es vermehrt zu Unfällen, weil Kinder nicht mehr in der Lage waren Abstände korrekt einzuschätzen. Die Einschränkung der sozialen Kontakte und der Wegfall ,,des sozialen Lernorts Schule“ zeigen in diesen Auffälligkeiten ihre gravierenden Folgen.

Die Lehrkräfte selbst fühlten sich während den Schulschließungen durch eine zeitintensivere Unterrichtsvor- und Nachbereitung, zusätzliche Aufgaben, eine veränderte Kontaktgestaltung, die Entwicklung von Unterrichtsersatzangeboten sowie durch die Betreuung eigener Kinder einer anstrengenden Mehrfachbelastung ausgesetzt.

2. Wie können lineare Schulfernsehangebote auf diese Auswirkungen eingehen?

Die Lehrkräfte stehen linearen Schulfernsehangeboten allgemein skeptisch gegenüber und sehen diese nur als Notlösung für zukünftige Schulschließungen an, wenn keine digitalen und interaktiven Unterrichtsformate durch Lehrpersonen durchgeführt werden können.

Alle Lehrkräfte haben sehr gute Erfahrungen mit interaktiven Unterrichtsersatzangeboten wie Videokonferenzen während der Schulschließungen gemacht und sehen diese dem linearen Schulfernsehen als überlegen an. Eine Grundlagenvermittlung sehen Sie durch das Schulfernsehen zwar als möglich an, sie bemängeln aber eingeschränkte Differenzierungsmöglichkeiten, fehlende Kontrollinstanzen und Interaktivität sowie begrenzte Hardware/ beengte Räumlichkeiten im Zuhause der SuS. Dies führe weiterhin zu einer Benachteiligung sozial schwacher SuS, da auch die fehlende Unterstützung durch die Elternhäuser wieder ihre Wirkung entfalten kann. Auf die Defizite in der sozialen und motorischen Entwicklung kann das Schulfernsehen keinen wesentlichen Einfluss aus Sicht der Lehrkräfte nehmen.

Lineare Schulfernsehangebote würde die Lehrpersonen selbst nicht entlasten, sondern ihre Lehrerrolle verändern und einschränken. Die Lehrpersonen befürchten, dass durch das Schulfernsehen das Aussuchen passendender Themen für den Unterricht entfällt und sie in ihrer Kreativität eingeschränkt werden. So entfallen die schönen Seiten des Lehrer*innenberufs. Zudem müssen sie sich trotzdem mit den Inhalten der Schulfernsehangebote beschäftigen, um Nachfragen der Schüler*innen beantworten zu können und Klausuren daran anpassen, was zeitlich keine Entlastung bringt.

Fazit

Lineare Schulfernsehangebote stellen aus Sicht von Lehrkräften nur eine absolute Notlösung für erneute Schulschließungen dar, da sie interakive Unterrichtsersatzangebote in der Distanzlehre bevorzugen und diese sich zunehmend im Verlauf der Schulschließungen durch die Coronapandemie etablieren konnten. Die Lehrkräfte haben während der Schulschließungen ihre Kompetenzen im Einsatz von neuen digitalen Medien ausgebaut, was darauf hoffen lässt, das erneute Schulschließungen zu weniger Lernrückständen führen werden. Eine Neuauflage des linearen Schulfernsehens erscheint dahingehend nicht mehr als sinnvoll, da die Vorteile von neuen interaktiven Distanzunterrichtsangeboten zu überwiegen scheinen, während bei lineare Schulfernsehangeboten die Liste der Nachteile lang ist. Zu Beginn der Schulschließungen, als sich interaktive Formate wie Videokonferenzen noch nicht etabliert hatten, wäre das lineare Schulfernsehen allerdings möglicherweise eine Alternative gewesen, um die Lernrückstände geringer zu halten.