Wie beeinflussen strukturelle und persönliche Faktoren die Umsetzung sexueller Bildung an Hamburger Schulen?

Forschungswerkstatt: „Medienbildung und Schulentwicklung. Methoden und Konzepte auf dem Prüfstand“ 2022/23 – Andreas Hedrich

Autor*innen: Johannes Behringer, Kathrin Dohndorf, Lou van Houtte, Sarah Kremerskothen und Veronika Maibaum

Zusammenfassung

Insgesamt hat sich gezeigt, dass sich innerhalb der Interviews eine progressive Sicht auf sexuelle Bildung ausmachen lässt. Vieles scheint, wie so oft im schulischen Bereich artikuliert, aufgrund mangelnder Zeit oder mangelnder Ressourcen nicht wie gewünscht umsetzbar zu sein. Zudem wird deutlich, dass sich die Ergebnisse dieser Untersuchung teilweise nicht mit Ergebnissen anderer Studien zu decken scheinen: Eine Sicht auf den Sexualkundeunterricht mit Beschränkung „auf biologische Funktionen, Organe und Verhütungsmethoden“ (Europa-Universität Flensburg (Hrsg.) o. J.), war nicht anzutreffen, vielmehr konnte seitens der interviewten Lehrkräfte insgesamt ein Bewusstsein für den Umfang des Faches und des Themenbereiches erahnt werden. Innerhalb der Analyse konnten induktiv vier Oberkategorien ausgemacht werden, welche die sexuelle Bildung an Schule beeinflussen. Daher werden die Ergebnisse in diesen vier Teilbereichen dargestellt (s.u.).

Hintergrund und Forschungsinteresse

Sexuelle Bildung ist ein wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung. Die Einbeziehung des Themas in die Schulbildung, um Schüler:innen Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, die gesunde sexuelle Entscheidungen fördern und Beziehungsstrukturen begreifbar machen, ist daher essenziell. An Hamburger Schulen bezieht sich sexuelle Bildung auf die Vermittlung von sexualitätsbezogenen Themen wie körperliche Entwicklung, Beziehungen, sexuelle Gesundheit, Verhütungsmittel, sexuelle Identitäten und Orientierungen, sowie sexuelle Rechte. Es ist ein wichtiges Thema, das die körperliche und psychische Gesundheit der Schüler:innen beeinflusst und ein sicheres Agieren in intimen Beziehungen idealerweise stärkt. Inwieweit lässt sich dies im Schulalltag wiederentdecken? Welche Einstellungen haben Lehrkräfte zum Thema und wo wirken strukturelle Einflussfaktoren hemmend oder förderlich auf die Gestaltung von Sexualerziehung?

Projekte wie teach love (Europa-Universität Flensburg (Hrsg.) o. J.) und Knowbody (Meyer et al. 2021) zeigen, dass alte Strukturen aufbrechen und innovative Ideen Veränderung einfordern. Es wird ersichtlich, dass der Diskurs rund um das Thema Sexualerziehung in den letzten Jahren deutlich an Relevanz gewinnt. Dieser gesellschaftliche Wandel verlangt nach einer neuen und vielfältigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Methodisches Vorgehen

Das Forschungsdesign wurde so gewählt, dass Multiplikator:innen – das pädagogische Personal – interviewt werden soll. Dafür wurden 4 Hamburger Schulen (2 Gymnasien und 2 Stadtteilschulen) mit unterschiedlichen Sozialindizes angefragt und 4 Interviews mit 3 Lehrerinnen und einem Lehrer durchgeführt. Zusätzlich wurde ein Interview mit einer pädagogischen Fachkraft eines externen Bildungspartners geführt, welcher mit einer der Schulen kooperiert.

Die leitfadengestützten Interviews wurden mittels MAXQDA codiert und segmentiert. In einem zweiten Schritt folgte die händische deskriptive und interpretative Analyse des Materials (qualitative Inhaltsanalyse).

Zusammenfassung der Ergebnisse

1.      Unterricht und Inhalte

Ein wesentlicher Baustein des Unterrichts ist das Unterrichtsmaterial. Allgemein wird die Situation rund um das Lehrmaterial als unbefriedigend beschrieben. Dies hemmt einen adäquaten Unterricht deutlich. Dass alte Materialien, die problematische Begriffe verwenden, nicht mehr verfügbar sind, wird zwar begrüßt, dass aber, weil noch kein Ersatz geschaffen wurde, kaum Material „zum Mitgeben“ vorhanden ist, wird mehrfach kritisiert. Daran lässt sich erkennen, dass teilweise eine Reflexion über Sexualität und Sprache stattfindet. Es wird auch beschrieben, dass neue Materialien wie Apps ausprobiert würden. Darüber hinaus scheint der Einsatz von Modellen beliebt. Dabei wird herausgestellt, dass anhand von beispielsweise Vulva-Modellen Sachen gut gezeigt werden könnten, die sich sonst, nach Wahrnehmung einer Lehrperson, nur schwer vorgestellt werden könnten. Die Aussage „Und sonst habe ich kein spezielles Material, wo ich jetzt sag, das, das würde ich empfehlen“ lässt sich so interpretieren, dass gutes Material rar zu sein scheint, oder aber, dass viel Material vorhanden ist und eingesetzt wird und noch keine tiefergehende, kritische Auseinandersetzung mit dem Materialangebot stattgefunden hat. Besonders beim Angebot und Einsatz von Lehrmaterial scheint die tiefergehende Betrachtung aus Forschungsperspektive lohnend.

Neben dem Material ist die Gestaltung des Unterrichts der zweite wichtige Baustein. Die Einbettung des Themas erfolgt dabei an den vier Schulen sehr unterschiedlich, Projektwochen oder Projektzeiträume werden allerdings oftmals eingesetzt. Immer wieder wird kritisiert, dass das Thema wenig fächerübergreifend vermittelt werde. Dabei werden als Grund strukturelle Faktoren (z. B. ungenaue Zuständigkeiten für Themen, die über herkömmlichen Sexualkundeunterricht hinausgehen, fehlende Möglichkeiten durch die Fächerstruktur) angeführt. Um die Schüler:innen nicht zu überfordern oder gar abzuschrecken, sei langsam ins Thema einzuführen. Innerhalb des Unterrichts müsse eine Balance zwischen dem Schaffen von Räumen, in denen möglichst frei gesprochen werden kann, und dem Ziel, alle am Gespräch und den Antworten teilhaben zu lassen, gefunden werden. Als gängig, aber dennoch problematisch, wird in diesem Zusammenhang das Separieren in eine weibliche und eine männliche Gruppe zwecks Fragerunden beschrieben. Hierbei kann auch festgestellt werden, dass der Umgang mit Heteronormativität und Queerness sehr unterschiedlich ist: Die Tiefe der Auseinandersetzung werde dabei von der Lerngruppe abhängig gemacht, eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex wurde teilweise als ungeeignet für den ersten Sexualkundeunterricht empfunden.

Es kann zusammengefasst werden, dass Lehrkräfte ihre Lerngruppe gut einschätzen lernen müssen und die Fähigkeit erlangen, eine Gratwanderung zwischen dem Lebensweltbezug auf der einen Seite und dem Einbringen neuer Inhalte (zur Erweiterung des Horizonts etwa mit Blick auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt) auf der anderen Seite zu bewältigen.

2.      Perspektive auf die Schüler:innen (Lebenswelt)

Das Interesse der Schüler:innen an sexualitätsbezogenen Themen ist in der Regel sehr groß und der Wissensdurst aufgrund der Alltagsrelevanz umfangreich – entsprechend wichtig ist es, auf die Interessen der Schüler:innen einzugehen. Dass sich die Schüler:innen sicher fühlen in ihrer Lerngruppe und mit den jeweiligen Bezugspersonen, ist bedeutsam für eine gelingende Sexualbildung. Diese Sicherheit kann durch persönliche Bindung und Vertrautheit entstehen, aber auch durch Anonymität. Es wird beschrieben, dass die Schüler:innen sehr unterschiedlich früh oder spät Interesse an sexualitätsbezogenen Themen entwickeln, weshalb Lerngruppen meist sehr heterogene Voraussetzungen mitbringen. Daraus ergibt sich die Herausforderung für Lehrkräfte, die Schüler:innen nicht zu überfordern aber gleichzeitig interessierten Schüler:innen Raum und Informationen für die tiefergehende Auseinandersetzung zu bieten, um beispielsweise auch Falschinformationen und verzerrten Wahrnehmungen entgegenwirken zu können. Denn wie viel Aufklärung schon in der Familie stattfindet und vor allem auch wie gut der Unterricht aufgenommen wird, sei auch innerhalb der meisten Lerngruppen sehr unterschiedlich und hänge eng mit den durch das Elternhaus vermittelten, kulturell und religiös geprägten Werten zu Sexualität zusammen. Dadurch sei es den Lehrkräften zufolge teils schwierig, alle Schüler:innen dort abzuholen, wo sie stehen. So wurde beispielsweise berichtet, dass einige Schüler:innen beispielsweise große Berührungsängste mit den biologischen Aspekten von Sexualität haben oder mit Themen, die nicht den sexuellen Hetero-Normen entsprechen. Das zeigt auch, dass es nach der Wahrnehmung einiger Interviewten noch zur Lebenswelt der Schüler:innen gehöre, dass queerfeindliche Stimmungen präsent sind, gleichzeitig wird allerdings auch beobachtet und geschildert, dass es „normaler“ geworden sei, dass sich beispielsweise Jungen einen „vermeintlich weiblichen Anstrich“ geben, dass „diese Grenze [zwischen Männlich und Weiblich], die die wird immer breiter, […] oder der Grenzbereich wird wirklich ein Bereich“, dass Queerness also in vielen Klassenzimmern alltäglicher und sichtbarer wird. Am Beispiel ‚Pornografie‘ zeigt sich, dass Themen nicht verteufelt werden dürften, es müsse stattdessen ein reflektierter Umgang mit entsprechenden Medien angeregt werden, um vor allem die verzerrten Sichtweisen auf sexualitätsbezogene Themen und Erwartungen, die beispielsweise an ‚das erste Mal‘ gestellt werden, welche durch „idealisierte Bilder“ entstehen, zu reflektieren, aufzulösen und peer pressures entgegenzutreten.

3.      Einstellungen der pädagogischen Fachkraft

Die interviewten Lehrkräfte üben augenscheinlich die Aufgabe der Organisation oder des Unterrichtens innerhalb der Schule gerne aus. Aus den Interviews konnte abgelesen werden, dass die Aufgaben, die mit dem Sexualkunde-Unterricht in Verbindung stehen, mit viel Engagement ausgeübt werden. Dabei wird sexuelle Bildung als elementares Thema angesehen, bei dem es keine Tabus geben solle. Gleichzeitig ist es essenziell die persönlichen Grenzen der Beteiligten abzuschätzen, um diese nicht zu überschreiten. Kritisiert wurde, dass es zu wenig Fortbildungsmöglichkeiten sowie strukturelle und finanzielle Ressourcen gäbe. Es hänge zu sehr am Engagement Einzelner, wie ausführlich oder eben auch nicht auf Inhalte der sexuellen Bildung eingegangen würde. Auch wird in den Interviews deutlich, dass die Befragten durch ihre privilegierte Rolle nicht als authentisches Rollenvorbild für andere Geschlechtsidentitäten als die eigene fungieren könnten. Alle Befragten bezeichneten sich selbst als cis-geschlechtlich, die befragten Lehrkräfte finden sich dazu in eher heteronormativen Rollenbildern wieder und reflektierten dies in Bezug auf das vorgelebte Rollenvorbild durchaus kritisch. Die offensichtliche Vorbildfunktion von Lehrkräften auch bei diesem Thema macht einen relevanten Beitrag bei der Begegnung mit dem Thema Sexualität aus. Dabei kommt es allerdings durch die gesellschaftliche Position von Lehrkräften zu einer Verzerrung. Durch den akademischen und langwierigen Ausbildungsweg und die vergleichsweise hohe Bezahlung kann den Lehrkräften ein guter ökonomischer Status zugesprochen werden. Auch wenn die Stichprobe keine Rückschlüsse auf die Gesamtsituation zulässt, kann die Vermutung geäußert werden, dass queere Vorbilder unter Lehrkräften nur selten zu finden sind. Darüber hinaus wurde auch auf die gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten eingegangen, die als noch sehr unterschiedlich beschrieben wurden.

Die Schilderungen zeigen, dass die persönlichen Einstellungen in den hier vorliegenden Fällen zu einer erfolgreichen Umsetzung des Sexualkunde-Unterrichts beitragen.

4.      Organisation und Struktur

Strukturelle Vorgaben und die organisatorische Umsetzung sind für die Rahmung von sexueller Bildung in der Schule maßgeblich. Sexualerziehung wird in den befragten Schulen in den Jahrgängen 6/7 und 8/9 unterrichtet. Der zeitliche Umfang wird dabei zumeist von der Lehrkraft variabel festgelegt. Teilweise wurde auch berichtet, dass dem Thema manchmal mehr Zeit eingeräumt wird, als im Curriculum angedacht. Alle befragten Lehrkräfte haben innerhalb des Lehramtsstudiums Biologie als Unterrichtsfach studiert. Teilweise fungieren sie als Multiplikator:innen innerhalb des Kollegiums, um Kolleg:innen fortzubilden, die Sexualkunde fachfremd unterrichten. Es wird beschrieben, dass sexuelle Bildung keine besondere Priorität seitens der Schulleitung in den Schulen der befragten Lehrer:innen erfährt. In einem Fall wird sogar beschrieben, dass bei zeitlicher Knappheit auch schnell über die Reduzierung des Umfangs des Sexualkunde-Unterrichts nachgedacht werde. Benötigtes Material werde aus dem Schuletat finanziert. Über die schulinternen Strukturen hinaus wird teilweise mit externen Bildungspartner:innen zum Thema kooperiert. So suchen die Lehrkräfte aktiv den Kontakt zu externen Kooperationspartnern.

 

Es lässt sich zusammenfassen, dass entsprechend der Schilderungen in den Interviews vieles im Bereich sexueller Bildung innerhalb der Schule durch (Einzel-)Engagement vorangetrieben wird. Die Lehrkräfte, die befragt wurden, haben sich gerne bereit erklärt, ein Interview zu geben, woraus geschlossen werden kann, dass sie dem Thema Wichtigkeit beimessen. Unerkannt bleiben so Fälle, in denen keines oder nur wenig Engagement für die Vermittlung von sexueller Bildung bereitsteht. Die beschriebenen strukturellen und organisatorischen Begebenheiten lassen allerdings nicht erwarten, dass eine positive Vermittlung sexueller Bildung im Rahmen der Leitlinien des Bildungsplans auch ohne persönliches Engagement seitens der Lehrkräfte gelingt.